Andrea Lichtfuss, EU-Abgeordnete aus Tirol: Theresa Bielowski und Barbara Thaler

Von langen Tagen und kurzen Jahren im Europäischen Parlament

Im Herzen der EU: Einblicke in den politischen Alltag & das EU-Parlament.

7 Min.

© European Union 2023 - EP/photographer Eric Vidal

Einen typischen Bürotag gibt es für sie ebenso wenig wie spontane Friseurbesuche: Wir haben die zwei Tiroler EU-Abgeordneten Barbara Thaler und Theresa Bielowski bei ihrer täglichen Arbeit im Europäischen Parlament in Brüssel begleitet.

„Wir haben hier im Parlament einen Spruch, der unsere Arbeit ganz gut beschreibt: Long days, short years“, erzählt Barbara Thaler, als wir den Gang entlanglaufen. Zwischen der morgendlichen Bürobesprechung und der Sitzung des Verkehrsausschusses bleibt nur wenig Zeit für ein schnelles Frühstück in der Kantine – und die Gelegenheit für mich, noch ein paar Fragen zu stellen. Zwei Tage lang durfte ich die gebürtige Thierseeerin und ihre Tiroler Amtskollegin Theresa Bielowski bei ihrer Arbeit als Abgeordnete im Brüsseler EU-Parlament begleiten.

Neben mehr als 10.000 Schritten pro Tag und einer neuen Definition von einem langen Arbeitstag sammelte ich dabei unter anderem die Erkenntnis, wie bedeutsam, herausfordernd und zugleich bewundernswert die weibliche Politik ist.

straffes programm

Europäisches Parlament, Brüssel, zu Besuch
© TIROLERIN/Andrea Lichtfuss

4-wochen-zyklus im eu-parlament

Der parlamentarische Alltag gliedert sich in einen vierwöchigen Zyklus. Die ersten beiden Wochen des Monats verbringen die Abgeordneten in Brüssel: Hier finden die Fraktionsarbeit und die Ausschusssitzungen statt, dabei werden aktuelle europarelevante Themen sowie Gesetzesvorschläge besprochen und gemeinsame Standpunkte erarbeitet. Nach dieser Vorbereitungsarbeit geht es zu den Plenarsitzungen nach Straßburg, wo die Gesetze – nach finalen Abstimmungen – schließlich verabschiedet werden. Aufgrund des anspruchsvollen Voting-Systems, bei dem über fast jeden Paragrafen einzeln abgestimmt wird, kann eine Abstimmungsliste schon einmal 20 bis 30 Seiten haben. Sämtliche Parlamentssitzungen werden online übertragen und können live gestreamt werden. Am Rande der Plenarsitzungen bleibt Zeit für Termine und Gespräche, Besucher:innengruppen und diverse Zeremonien. Die vierte und letzte Woche des Monats ist für außerparlamentarische Aktivitäten reserviert: Dazu zählen etwa politische Veranstaltungen in der Heimat, aber auch Reisen ins Ausland – beispielsweise, um Wahlbeobachtungen in anderen Ländern vorzunehmen. Weil es im EU-Parlament – anders als in nationalen Parlamenten – keine Koalition gibt, nimmt die parteiübergreifende Zusammenarbeit eine wichtige Rolle ein; die Suche nach Kompromissen steht daher über der Konfrontation.

Andrea Lichtfuss, EU-Abgeordnete aus Tirol: Theresa Bielowski und Barbara Thaler
© European Union 2023 – EP/photographer Eric Vidal

Zwischen drei Ländern

2019 konnte sich Barbara Thaler als Tiroler Spitzenkandidatin der Europawahl durchsetzen, seither hat sich ihr Arbeitsplatz ins Herz der Europäischen Union verlagert. „Es war definitiv ein Sprung ins kalte Wasser. Mein kompletter Tagesablauf hat sich umgestellt, jetzt lege ich pro Monat ungefähr 6.000 Kilometer zwischen Brüssel, Straßburg und Innsbruck zurück. Einmal habe ich zehn Tage lang jeden Abend in einem anderen Bett geschlafen. Die Distanzen machen es mir schon manchmal schwer. Wenn ich in Brüssel in einer wichtigen Sitzung bin und parallel dazu in Tirol eine spannende Diskussionsrunde stattfindet, möchte ich mich oft dreiteilen“, erzählt sie. An das viele Reisen gewöhne man sich mit der Zeit, meint sie – nur hin und wieder vergesse sie noch, Kleinigkeiten von A nach B mitzunehmen. Und obwohl sie ein großer Formel-1-Fan ist, fährt Thaler – die sich auch politisch für den Ausbau des Schienenverkehrs und für Verkehrsverlagerung in Europa einsetzt – am liebsten mit dem Zug: „Da habe ich dann auch einmal Zeit, um das Handy beiseitezulegen und ein gutes Buch – einen Roman, kein Sachbuch – zu lesen oder einen interessanten Podcast zu hören. Manchmal reicht es mir aber auch, einfach nur aus dem Fenster zu schauen.“

Die Distanzen machen es schon manchmal schwer, oft möchte ich mich dreiteilen.

-Barbara Thaler, EU-Abgeordnete
Europäisches Parlament
© Studiegroep D. Bontinck

IT als Ausgleich

Neben ihrem politischen Amt betreibt Barbara Thaler eine eigene Digitalagentur, die sie 2007 ins Leben rief. „Die Selbstständigkeit ist ein wichtiger Teil von mir, den ich mit meiner neuen Aufgabe als EU-Abgeordnete nicht einfach aufgeben wollte. Und dank meines fantastischen Teams, dem ich voll und ganz vertraue, gelingt es mir zum Glück bis heute, die Agentur erfolgreich weiterzuführen.“ Die technische Arbeit sei außerdem ein guter Ausgleich zum Politiker:innenalltag: „Ich freue mich richtig darauf, am Wochenende eine Webseite programmieren zu können. Für mich ist das wie Urlaub für den Kopf.“ Auch tatsächlicher Urlaub sei möglich, wenn auch nur in einem begrenzten Zeitraum: Im August, wenn das EU-Parlament für drei Wochen in die Sommerpause geht, können sich auch die Abgeordneten und Büromitarbeiter:innen eine längere Pause gönnen. Denn obwohl Letztere weniger im Rampenlicht stehen, sind sie ein essenzieller Bestandteil des parlamentarischen Geschehens. Ihr Arbeitsalltag ist eng an jenen der Abgeordneten gekoppelt – und ähnlich stressig.

Andrea Lichtfuss, EU-Abgeordnete aus Tirol: Theresa Bielowski und Barbara Thaler
© European Union 2023 – EP/photographer Eric Vidal

Management im Hintergrund

Die sogenannten APAs – „accredited parliamentary assistants” – koordinieren private und offizielle Termine, bearbeiten hunderte eingehende Mails pro Tag, organisieren externe Besuche wie den meinen, haben stets sämtliche Unterlagen bei der Hand – kurz gesagt: Bei ihnen laufen sämtliche Fäden zusammen. Allein das Terminmanagement ist eine Herausforderung für sich, nicht umsonst ist unter den APAs auch umgangssprachlich von „Kalender-Tetris“ die Rede. „Wenn ich zum Friseur gehen möchte, muss ich zuerst bei meinen Büromitarbeiter:innen anfragen – sie schauen dann, wo sie einen Termin hineinquetschen können“, lacht Theresa Bielowski, als wir beim Abendessen zusammensitzen.

Man muss schon ein großes Vertrauen haben, immerhin teile ich fast mein gesamtes Leben mit meinem Team. Aber ohne sie wäre meine Arbeit auch nicht möglich.

-Theresa Bielowski
Parlamentarium: Zu Besuch im Europäischen Parlament
© TIROLERIN/Andrea Lichtfuss

Weibliche Solidarisierung

Wie Barbara Thaler stammt auch Theresa Bielowski aus einem kleinen Ort im Tiroler Unterland, im Oktober 2022 zog sie als Abgeordnete ins Europäische Parlament ein. Sie bezeichnet sich selbst als „politische Quereinsteigerin“, war zuletzt Abteilungsleiterin beim AMS Tirol und erfuhr als junge alleinerziehende Mutter am eigenen Leib, wie es ist, trotz größtmöglichen Engagements gerade so über die Runden zu kommen. Umso stärker engagiert sich die 39-Jährige heute im Kampf gegen Armut und setzt sich darüber hinaus für Frauen- und LGBTQIA*-Rechte sowie die Regulierung von Künstlicher Intelligenz ein. Durch ihre Arbeit im EU-Parlament habe sie gemerkt, wie wichtig die Solidarisierung unter Frauen sei – auch über Parteigrenzen hinweg: „In der Politik sind wir Frauen immer noch viel Hass und Diskriminierung ausgesetzt, werden oft auf das Aussehen reduziert und nicht ernst genommen oder einfach übergangen. Gerade auf Social Media sind Kommentare unter der Gürtellinie leider keine Seltenheit. Umso dankbarer bin ich, dass wir Frauen uns im Parlament gegenseitig den Rücken stärken“, erzählt Bielowski.

EU-Parlament, Politik, Brüssel
© Europäisches Parlament: Architecte: Association des architectes du CIC: Vanden Bossche sprl. C.R.V. s.a., CDG sprl.

Hass im Netz

Gemeinsam mit ihrer Amtskollegin Evelyn Regner lud Theresa Bielowski kürzlich zu einer Konferenz, um auf den digitalen Hass gegenüber Politikerinnen aufmerksam zu machen. Im Vorfeld befragte die Technische Universität München EU-Abgeordnete dazu nach ihren persönlichen Erfahrungen.

Das Ergebnis: Es gab einen deutlichen Unterschied in der Art und Weise, wie die Geschlechter beleidigt werden. Fast ausschließlich weibliche Personen sind von sexualisierter verbaler Gewalt betroffen. Daher sei es laut Bielowski unumgänglich, die Sicherheit und Freiheit von Frauen online und offline zu erhöhen – etwa durch eine Sensibilisierung der Strafbehörden.

In der Politik sind wir Frauen immer noch viel Hass und Diskriminierung ausgesetzt.

-Theresa Bielowski, EU-Abgeordnete
EU-Parlament: Hinter den Kulissen
© TIROLERIN/Andrea Lichtfuss

EU-Luft schnuppern

Dass man ein dickes Fell braucht, um diesen Beruf auszuüben – darin sind sich die beiden Tirolerinnen einig. Und auch, wenn ihr Tag oftmals die 12h Marke überschreitet: Letztlich ist jede:r von Engagement, bereichernden Begegnungen und wegweisenden Entscheidungen geprägt. Wer einmal selbst in den politischen Alltag schnuppern möchte, kann sich jederzeit um ein Praktikum im EU-Parlament bewerben und die Gestaltung von Europas Zukunft hautnah miterleben. Denn obwohl der Anteil weiblicher Mitglieder im EU-Parlament mit 40 Prozent einen historischen Höchststand erreicht hat, gibt es noch viel Luft nach oben.

Zweifelt nicht an euch selbst, traut euch ein bisschen mehr zu und nutzt eure Stimme. Bereitet euch gut vor und schafft euch ein Netzwerk. Den Rest lernt man von selbst.

Barbara Thaler

Übrigens: Die nächste Europawahl findet im Juni 2024 statt. Nutzen auch Sie Ihre Stimme.

Tirolerin in Brüssel, EU-Parlament
© TIROLERIN/Andrea Lichtfuss

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