Das Problem der Altersarmut
Expertin und Sozialwissenschaftlerin Eva Fleischer im Gespräch über das oft ungesehene Problem der Altersarmut.
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Immer mehr Menschen müssen im Alter mit knappen Mitteln auskommen. Expertin Eva Fleischer über das Problem der Altersarmut.
UNGESEHEN.
Die Vorstellung vom Ruhestand klingt verlockend: endlich Zeit für gemütliche Nachmittage im Garten, Reisen und die eigenen Hobbys. Doch für viele Menschen ist die Pension alles andere als ein sorgenfreier Lebensabend. Statt Sicherheit und Unbeschwertheit erwarten sie finanzielle Unsicherheit, steigende Lebensunterhaltungskosten und knappe Pensionen. Vor allem Frauen trifft es dabei hart: Laut Statistik Austria sind rund zwei Drittel aller armutsgefährdeten Personen im Alter über 65 Jahren weiblich.
Unterschätztes Problem.
Eva Fleischer ist als Lehrende und Forschende in der Aus- und Weiterbildung von Sozialarbeiter:innen und anderen Berufen im sozialen Bereich tätig. Als Expertin beschäftigt sie sich unter anderem mit den sozialpolitischen Themen wie Armut und Pflege. Im Gespräch erklärt sie, wie Armut gemessen wird, welche Herausforderungen Betroffene bewältigen müssen und welche politischen Maßnahmen notwendig sind, um die leider oft übersehene Situation von älteren Menschen zu verbessern.
Wie schätzen Sie die derzeitige Situation der Altersarmut in Tirol ein?
Eva Fleischer: Altersarmut ist ein oft unterschätztes Problem. Österreichweit sind etwa 20,7 Prozent der Frauen und 13,5 Prozent der Männer über 65 armutsgefährdet. In Tirol sind besonders alleinlebende Frauen betroffen – etwa 30.000 von ihnen müssen mit ihrer Pension am Existenzminimum leben. Leider gibt es jedoch keine spezifischen Studien, die sich explizit mit der Altersarmut in Tirol auseinandersetzen.
Wie wird Armut generell gemessen?
In Europa messen wir Armut relativ, das heißt, wir gehen von einem Mindeststandard aus, der von der Gesellschaft definiert wird. Eine zentrale Messgröße ist die Armutsgefährdung, die anhand des Haushaltseinkommens ermittelt wird. Haushalte, deren Einkommen weniger als 60 Prozent der Mitte, auch Median genannt, beträgt, gelten als armutsgefährdet. In Österreich liegt diese Schwelle bei 1.572 Euro für eine alleinstehende Person. In Tirol sind 12,3 Prozent der Bevölkerung armutsgefährdet.
Wichtig zu erwähnen ist dabei jedoch, dass dabei das Gesamteinkommen des Haushalts als Bezugsgröße genommen wird und Verteilungs- sowie Machtkonstellationen nicht beachtet werden. Dadurch wird nicht deutlich, ob alle Personen – vor allem Frauen – tatsächlich Zugang zu den finanziellen Mitteln haben. Im Falle einer Trennung, Scheidung oder Verwitwung kann der Lebensstandard von Frauen zudem dramatisch sinken.
Ein anderer Zugang, um Armut zu messen, ist die „erhebliche materielle und soziale Benachteiligung“. Hierbei wird gemessen, ob Haushalte aufgrund ihres geringen Einkommens wichtige Ausgaben, wie das Heizen der Wohnung oder unerwartete Ausgaben, nicht tätigen können. 2023 waren davon 3,7 Prozent der Bevölkerung betroffen.
Welche Herausforderungen und Probleme müssen von Betroffenen bewältigt werden?
Die Inflation trifft Haushalte mit geringem Einkommen besonders hart, weil sie einen großen Teil ihres Budgets für Wohnen, Energie und Lebensmittel ausgeben müssen. Viele sparen bei Lebensmitteln oder verzichten auf eine angemessene Heizung. Armutsgefährdete Menschen haben auch oft keinen Zugang zu wichtigen Gesundheitsleistungen wie Zahnersatz oder Physiotherapie. Dadurch sinkt natürlich die eigene Lebensqualität, und es entstehen langfristige Gesundheitsprobleme. Frauen sind im Alter zudem stärker von Pflegekosten betroffen, da sie seltener von ihren Partnern gepflegt werden.
Gibt es Unterschiede zwischen ländlichen und städtischen Regionen in Bezug auf Altersarmut in Tirol?
Generell ist die Armutsgefährdung in Städten höher als im ländlichen Raum. Das liegt daran, dass in städtischen Gebieten mehr Drittstaatsangehörige leben, die stärker von Armut betroffen sind. Im ländlichen Tirol ist jedoch die Erwerbsbeteiligung von Frauen wesentlich geringer, und sie leisten mehr unbezahlte Arbeit, was sich später negativ auf die Pensionshöhe auswirkt. Diese Frauen sind somit oft stärker von Altersarmut betroffen.
die ungleiche Aufteilung von Care-Arbeit und der „Gender Pay Gap“ tragen dazu bei, dass Frauen niedrigere Pensionen haben.
Eva Fleischer, Sozialwissenschaftlerin
Was sind die Hauptgründe dafür, dass Frauen ein höheres Risiko haben, in die Altersarmut zu rutschen?
In Österreich ist der Unterschied zwischen Männer- und Frauenpensionen enorm: Der „Gender Pension Gap“ beträgt 40,1 Prozent, in Tirol sogar 43,8 Prozent. Hauptgründe dafür sind die schlechter bezahlten Jobs, in denen Frauen oft arbeiten, wie der Tourismus oder das Gesundheitswesen. Hinzu kommen häufige Erwerbsunterbrechungen für Kinderbetreuung oder Pflege von Angehörigen. Auch die ungleiche Aufteilung von Care-Arbeit und der „Gender Pay Gap“ tragen dazu bei, dass Frauen niedrigere Pensionen haben.
Zudem haben Frauen oft geringere Aufstiegschancen und erleben Diskriminierung am Arbeitsmarkt, was sich ebenfalls negativ auf ihr Einkommen auswirkt. Das führt oft zu dem Missverständnis, dass Frauen selbst schuld seien, weil sie die „falschen“ Branchen wählen, dabei spielen strukturelle Benachteiligungen eine wesentliche Rolle.
Welche Rolle spielt unbezahlte Care-Arbeit dabei?
Unbezahlte Care-Arbeit ist ein zentraler Faktor. Frauen unterbrechen oft ihre Erwerbstätigkeit oder arbeiten nur Teilzeit, um sich um Kinder oder pflegebedürftige Angehörige zu kümmern. Diese Phasen fehlen in ihrer Pensionsberechnung, und die Lücken im Erwerbsleben lassen sich später kaum ausgleichen. Auch wenn Frauen im Berufsleben stehen, übernehmen sie immer noch den Großteil der Hausarbeit, was sich negativ auf ihre Aufstiegschancen und ihr Einkommen auswirkt.
In bestehenden Beziehungen könnten Maßnahmen wie geteilte Elternzeit oder Pensionssplitting einen Ausgleich schaffen. Die aktive Rolle der Männer bei der Entstehung von Frauenarmut wird oft übersehen. Frauen übernehmen die Care-Arbeit ja nicht zufällig – das hat viel mit Rollenmustern und Machtverhältnissen in den Beziehungen zu tun.
In bestehenden Beziehungen könnten Maßnahmen wie geteilte Elternzeit oder Pensionssplitting einen Ausgleich schaffen.
Eva Fleischer, Sozialwissenschaftlerin
Was könnte getan werden, um junge Menschen, vor allem junge Frauen, frühzeitig für das Thema Altersvorsorge zu sensibilisieren?
Viele junge Menschen beschäftigen sich nicht mit dem Thema, weil sie denken, dass es für sie ohnehin keine Pension mehr geben wird. Aber es ist wichtig zu verstehen, dass die Höhe des Einkommens und die Dauer der Erwerbstätigkeit entscheidend für eine sichere Altersvorsorge sind.
Frauen sollten auf eine gute Ausbildung achten, Gehaltsverhandlungen führen und Teilzeitarbeit möglichst nur für begrenzte Zeit ausüben. Auch das Einfordern von Unterhalt nach Trennungen oder die Nutzung staatlicher pensionserhöhender Maßnahmen kann helfen, sich besser abzusichern.
Welche bestehenden sozialen Unterstützungsmaßnahmen gibt es in Tirol, um vor Altersarmut zu schützen, und reichen diese Ihrer Meinung nach aus?
Zunächst ist es wichtig, die Scham, die mit Armut verbunden ist, zu überwinden. Leider gibt es viele Menschen, die die Inanspruchnahme sozialer Leistungen als persönliches Versagen erleben – das ist es aber keinesfalls. Organisationen wie DOWAS, lilawohnt, BARWO oder die Caritas bieten Beratungen und Hilfe bei der Antragstellung finanzieller Hilfen an. Diese Angebote sind jedoch meist auf Ballungsräume konzentriert. Es wäre wichtig, dass auch in ländlichen Gebieten mehr Beratungsstellen eingerichtet werden.
Welche politischen Maßnahmen halten Sie für notwendig, um die Altersarmut in Tirol effektiv zu bekämpfen?
Es braucht eine Reform des Pensionssystems, die Care-Arbeit besser anerkennt und alle diejenigen stärker absichert, die Sorgearbeit übernehmen, Frauen wie Männer. Zentral ist auch der Ausbau von Kinderbetreuung und Pflegeangeboten bei gleichzeitiger Offenheit von Arbeitsgebenden für Menschen mit Sorgeverantwortung.
Um die Lebensumstände von Armutsbetroffenen zu verbessern, müssten die Wohn- und Energiekosten realistisch in der Sozialhilfe berücksichtigt werden. Wichtig wäre auch das Aufbrechen konservativer Rollenbilder, damit Care-Arbeit nicht mehr nur als Aufgabe von Frauen wahrgenommen wird.
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Mehr zur Autorin dieses Beitrags:
Tjara-Marie Boine ist Redakteurin für die Ressorts Business, Leben und Kultur. Ihr Herz schlägt für Katzen, Kaffee und Kuchen. Sie ist ein echter Bücherwurm und die erste Ansprechpartnerin im Team, wenn es um Themen wie Feminismus und Gleichberechtigung geht.