Was uns krank macht

Was mentale Gesundheit mit sozialer Ungleichheit zu tun hat?

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Ihr Buch trägt den nicht gerade einfach zu lesenden Titel „Patriarchale Belastungsstörung“. Trotzdem stieß es auf großes Interesse. Warum?

Beatrice Frasl: Ich denke, es kommt einfach zur richtigen Zeit. Die multiplen Krisen, mit denen wir konfrontiert sind, führen den Menschen vor Augen, dass die Systeme, in denen wir leben, einen großen Anteil daran haben, wie belastet, wie gesund oder krank wir sind. Die derzeitige Teuerungs- sowie Inflationskrise zeigt, dass Armut, finanzielle Not, politische Instabilität und unsichere Zukunftsaussichten unser psychisches Wohlbefinden massiv beeinträchtigen können. Die Corona-Krise hat uns zudem vor Augen geführt, dass Isolation und Einsamkeit uns krank machen. Wir erleben alle seit drei Jahren am eigenen Leib, in der eigenen Psyche, dass wir nicht losgelöst von den Verhältnissen und auch nicht losgelöst von den Verhältnissen gesund oder krank sind, sondern an ihnen erkranken oder gesunden. Genau darum geht es im Buch. Und das ist einfach eine Idee, deren Zeit gekommen ist.

Wie sind Sie auf den Titel gekommen?

Ich wollte im öffentlichen Diskurs über psychische Erkrankung und psychische Gesundheit die politischen und sozioökonomischen Verhältnisse ins Zentrum rücken, die systemischen Vorbedingungen, an denen wir (auch) erkranken oder gesunden können. Deshalb habe ich „posttraumatisch“ durch „patriarchal“ ersetzt.

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Das Thema Ihres Buches ist die psychische Gesundheit, den Fokus haben Sie auf Unterschiede im Bezug auf Geschlecht und Klasse gelegt. Welche zentralen Unterschiede gibt es dabei?

Es ist sehr schwer fast 400 Seiten auf eine Antwort herunterzukürzen. Aber ich nenne ein Beispiel: Es ist vermutlich nicht überraschend, dass Armutsbetroffene und Armutsgefährdete ein größeres Risiko haben, an bestimmten psychischen Erkrankungen zu leiden (beispielsweise Depressionen oder Angsterkrankungen) als Menschen, denen es finanziell gut geht. Menschen, die belastete Leben führen, die vielleicht nicht wissen, wie sie die Miete zahlen sollen, das tägliche warme Mittagessen für die eigenen Kinder oder die Stromrechnung, sind oft so belatet, dass sie psychische Erkrankungen entwickeln. Das ist naheliegend. Was wir vielleicht vergessen: Armut ist kein geschlechtsneutrales Phänomen. 70 Prozent der Armen der Welt sind Frauen. Auch in Österreich sind Frauen in größerem Maß von Armut und Ausgrenzung betroffen oder armutsgefährdeter als Männer. Hier sind vor alle die Alleinerzieherinnen zu nennen, welche die größte erwerbsarbeitende Gruppe in Österreich darstellen, die armutsbetroffen und armutsgefährdet ist, und die Pensionistinnen, die oft in Altersarmut landen, weil sie über 40 Prozent weniger Pension erhalten als Männer.

Wenn es um psychische Gesundheit geht, ist uns unsere eigene Betroffenheit nicht bewusst.

Beatrice Frasl
„PATRIARCHALE BELASTUNGSSTÖRUNG“ von Beatrice Frasl, Haymon Verlag | ISBN: 978-3-7099-8175-7 | € 19,90

Wenn wir feststellen, dass arme Menschen ein größeres Risiko haben, psychisch zu erkranken, impliziert das auch, dass Frauen gefährdeter sind, psychisch zu erkranken?

Das ist nur ein Faktor, der das Zusammenspiel von Klasse, Geschlecht und Psyche zeigt.

Warum wird die Ungleichbehandlung im Gesundheitssystem so wenig öffentlich diskutiert?

Ich denke, sie wird immer mehr diskutiert, weil die Lage immer prekärer wird. Allerdings wird sie primär für physische Gesundheitsversorgung thematisiert und sehr wenig in Bezug auf die psychische Gesundheitsversorgung. Ich bin der Meinung, dass ein wesentlicher Grund hierfür darin liegt, dass psychische Erkrankungen gerne als etwas betrachtet werden, von dem „wir“ nicht betroffen sind. Psychisch erkrankt sind die anderen, die Verrückten, mit denen „wir“ nichts zu tun haben. Das ist natürlich einerseits faktisch falsch, da die Wahrscheinlichkeit irgendwann im Leben psychisch zu erkranken sehr hoch ist. Andererseits führt es aberdazu, dass psychische Gesundheit nicht als ein politisches Thema verhandelt wird, das uns alle betrifft. Obwohl es das ist und obwohl es das tut. Im Gegensatz dazu ist uns allen klar, dass uns der Pflegenotstand in österreichischen Krankenhäusern betrifft, dass uns betrifft, wenn es nicht genügend Kassenärzt:innen gibt, weil wir alle wissen, dass wir diese Gesundheitsdienstleistungen brauchen oder brauchen könnten. Und wenn wir sie nicht selbst brauchen, dann Menschen, die uns nahestehen. Wenn es um psychische Gesundheit geht, ist uns unsere eigene Betroffenheit nicht bewusst. Ich möchte sie bewusst machen.

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Sind psychische Erkrankungen in Österreich nach wie vor ein Tabuthema oder nehmen Sie Bewegungen in die richtige Richtung wahr?

Ich nehme vor allem wahr, dass es riesige Unterschiede je nach Milieu gibt, was es wiederum sehr schwer macht, allgemeine Trends auszumachen. Vor allem nehme ich ein starkes Stadt-Land-Gefälle wahr.

Sie berichten im Buch auch von Ihrer eigenen Leidensgeschichte. War und ist es wichtig, sich zu öffnen und sensible private Erfahrungen zu teilen?

Ich beschreibe nur jene Teile, die ich für die Gesamtbotschaft als politisch relevant halte. Mir war es wichtig, kein Betroffenheitsbuch zu schreiben, sondern ein informatives und politisches Sachbuch. Ich habe also sehr bewusst entschieden, was ich teile und meine Lektorin, Linda Müller, hat mich so sensibel und verständnisvoll durch den Prozess begleitet, dass nichts daran sonderlich schwierig war.

Macht das Patriarchat Sie wütend? Ist Wut generell ein guter Motivator?

Es macht mich müde und es macht mich wütend. Wut ist manchmal ein guter Motivator, aber nicht für sich alleine. Wut ist dann gut, wenn sie gepaart mit Klugheit auftritt.

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