Orgasm-Gap: Und wann kommst du?
In heterosexuellen Beziehungen kommen Frauen wesentlich seltener zum Orgasmus als Männer. Woran das liegt und was wir dagegen tun können.
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Dass Männer oft mehr verdienen als ihre weiblichen Kolleginnen, ist mittlerweile ein recht weitverbreiteter Konsens: Der aktuelle Gender-Pay-Gap in Österreich liegt laut Statistik Austria bei 18,4 Prozent. Jedoch schneiden Frauen nicht nur bei diesem Verdienst unfair ab. Auch in einem viel intimeren Bereich gibt es eine große Lücke zwischen den Geschlechtern: den sogenannten Orgasm-Gap.
Wie eine Studie, die im Fachmagazin „Archives of Sexual Behavior“ veröffentlicht wurde, zeigt, erleben rund 95 Prozent der heterosexuellen Männer einen Orgasmus beim Sex, während es bei den heterosexuellen Frauen nur 65 Prozent sind. Demgegenüber kommen 86 Prozent der Frauen in homosexuellen Beziehungen immer zum Orgasmus – an der generellen Orgasmusfähigkeit an sich scheint es also nicht zu liegen. Doch was sind dann die Gründe für den Orgasm-Gap?
Fehlende Aufklärung.
Neben stereotypisch geprägten Rollenbildern aufgrund patriarchaler Strukturen können auch fehlende Aufklärung und unrealistische Vorstellungen von Sex Gründe für die Orgasm-Gap sein, erklärt Corina Sauermoser von tabufreiezone. Die Sexualtherapeutin und -pädagogin bietet Workshops zum Thema Aufklärung von Erwachsenen sowie Lusterfahrung an und weiß, dass sich viele Mythen rund um das Thema ranken: „Die weibliche Sexualität hat erst in den letzten Jahren so langsam zurück in die Gesellschaft gefunden, weshalb das Thema noch sehr schambehaftet ist.“
Sigmund Freud, der einst den vaginalen Orgasmus als „erwachsenen und reifen“ Orgasmus postulierte, ahnte damals wahrscheinlich nicht, wie sehr seine Theorien die Diskurse um Sexualität auch heute noch prägen und verkomplizieren würden. Warum vor allem eine gute Kommunikation und grundlegende Aufklärung die richtigen Mittel gegen den Orgasm-Gap sind, berichtet die Expertin im Interview.
Was sind die Gründe für den Orgasm-Gap?
Corina Sauermoser: Dieser kann mehrere Gründe haben. Zum einen ist ein Großteil dem geschuldet, dass Frauen wie Männer die weibliche Anatomie oft nur unzulänglich kennen. Die Klitoris hat in etwa die Größe einer Faust und verläuft zum Großteil unterirdisch. Was Freud als „reifen und vaginalen“ Orgasmus bezeichnete, ist also genauso ein klitoraler Orgasmus. Wenn man weiß, wo die Organe sich im Körper befinden, kann man diese auch besser ansteuern und aktivieren.
Lange Zeit kursierten außerdem viele falsche Informationen und Mythen rund um den weiblichen Orgasmus. Die weibliche und die männliche Sexualität unterscheiden sich auch auf psychologischer Ebene. Wir sprechen hier von vier Phasen des sexuellen Reaktionszyklus. Die männliche Erregung ist dabei meist kontinuierlich und steil ansteigend, während die weibliche oft in Wellen verläuft und nicht unbedingt mit dem „Point of no Return“, also dem Orgasmus, endet.
Die weibliche Lust ist ein Thema, das auch heute noch sehr schambehaftet ist. Umso wichtiger ist es, dem Diskurs darüber Raum zu geben.
Corina Sauermoser, Sexualtherapeutin tabufreiezone
Was kann bei Orgasmus-Problemen helfen?
Eine fundierte Sexualaufklärung ist essenziell, um die eigenen Körperregionen besser zu verstehen und gezielt einzusetzen – ähnlich wie beim gezielten Muskelaufbau. Beckenbodentraining kann das sexuelle Erlebnis verbessern und das gilt für alle Geschlechter: Denn auch Männer haben einen Beckenboden! Durch solche Übungen wird die Durchblutung der Sexualorgane gefördert, was den Geschlechtsverkehr positiv beeinflussen kann.
Auch Sport und gesunde Ernährung tragen zum Wohlbefinden bei und können die sexuelle Erfahrung verbessern. Außerdem ganz wichtig: Communication is the key! Offene Kommunikation über Ängste, Wünsche und Vorlieben mit dem Partner ist entscheidend und kann zu einer erfüllenden sexuellen Beziehung führen.
Viele Paare reden jedoch kaum über Sex und den eigenen Orgasmus. Warum ist das Thema immer noch mit so viel Scham belastet?
Sexualität und Körperbewusstsein sind intime Bereiche, die oft Schamgefühle auslösen, da sie wenig thematisiert und verstanden werden. Schuldgefühle können ebenfalls eine Rolle spielen, abhängig von der Erziehung – je nachdem, ob diese offen und respektvoll oder restriktiv war. Zudem empfinden manche Personen Leistungsdruck in der Sexualität, wobei Frauen sich oft auf die Partnerzufriedenheit konzentrieren und dabei eigene Bedürfnisse vernachlässigen.
In Beziehungen täuschen viele dann auch den Höhepunkt vor, um den Partner nicht zu „enttäuschen“. Warum ist das problematisch?
In dem Moment, in dem ein Orgasmus vorgetäuscht wird, kommuniziert man dem Sexualpartner, dass man den aktuellen Geschlechtsverkehr gut findet. Demnach wird der Partner diesen Akt als erfolgreich abspeichern und wiederholen. Ein Orgasmus muss jedoch kein Kriterium für guten Sex sein – Nähe und Zuneigung sind ebenfalls für viele wichtig und nicht immer an den Höhepunkt gebunden.
Es ist völlig in Ordnung, dem Partner zu sagen, dass man keinen Orgasmus hatte und dass der Sex deswegen trotzdem schön sein kann. Oder dass man gerne etwas anders haben möchte, um eventuell doch einen Höhepunkt zu erlangen.
Inwieweit sehen Sie auch Handlungsbedarf beim Gegenüber, der Partnerin zum Orgasmus zu verhelfen?
Viele Männer finden es befriedigend, ihre Partnerin zum Orgasmus zu bringen, wobei der eigene Höhepunkt zweitrangig ist. Ist das Gegenteil der Fall, kann dies einmal an den gerade angesprochenen vorgetäuschten Orgasmen liegen – durch die der Partner glaubt, erfolgreich zu sein, ohne seine Technik zu ändern.
Es gibt aber auch Männer, die primär auf ihren eigenen Orgasmus fokussiert sind. In solchen Fällen ist es ratsam, sich klar zu positionieren und entweder auf Geschlechtsverkehr mit so einem Partner zu verzichten oder die eigenen Bedürfnisse in den Vordergrund zu stellen. Nur durch offenen Austausch und aufrichtiges Interesse am Gegenüber kann der Partner lernen, was man sich wünscht.
Der Orgasm-gap ist laut Studien bei lesbischen Paaren geringer als in heterosexuellen Beziehungen. Was könnten die Gründe dafür sein?
Ich denke, dass ein befriedigendes Sexualleben zweier Frauen zum einen dem geschuldet ist, dass Frauen das Geschlecht der Sexualpartnerin eventuell besser verstehen können, weil es sich ja um das eigene handelt. Frauen spielen im Bereich Empathiefähigkeit und Einfühlungsvermögen außerdem oft ganz vorne mit, was den Austausch in Bezug auf Bedürfnisse erleichtern kann. Ich gehe also davon aus, dass sich Liebkosungen sinnlicher gestalten könnten und eventuell zusätzlich andere Formen der Penetration gewählt werden, um zu stimulieren.
Beim Thema Orgasm-Gap wird meist nur von weiblichen und männlichen Geschlechtsteilen wie Vagina und Penis gesprochen. Jedoch gibt es auch Menschen, die nicht in dieses binäre, heteronormative System passen. Ist es wichtig, mehr darüber zu sprechen?
Sprache schafft Bewusstsein und Aufklärung. Es ist meiner Meinung nach eines der wichtigsten Instrumente, wenn es darum geht, für mehr Respekt und Wertschätzung einzutreten. Es ist sehr wichtig, darauf aufmerksam zu machen, dass Menschen mit allen möglichen Geschlechtsvariationen auf die Welt kommen und das alles genau so sein darf.
Das binäre heteronormative System beengt und spaltet oft sehr viel: Geschlecht und Sexualität sind Konstrukte, die von Menschen kreiert wurden, um zu kategorisieren und zu trennen. Das hat dazu geführt, dass alle unterschiedliche Rechte und Vor- und Nachteile davontrugen. Als Feministin stehe ich für die Gleichberechtigung aller Menschen, unabhängig von Geschlecht oder sexueller Orientierung.
Das binäre heteronormative System beengt und spaltet oft sehr viel: Geschlecht und Sexualität sind Konstrukte, die von Menschen kreiert wurden, um zu kategorisieren und zu trennen.
Corina Sauermoser, Sexualtherapeutin tabufreiezone
Ab wann empfehlen Sie, eine Sexualberatung aufzusuchen?
Eine Paarberatung kann sehr hilfreich sein, wenn ein Paar sozusagen Übersetzungshilfe in der Kommunikation benötigt, weil man von selbst keinen Konsens (mehr) findet. Hier würde die Fachperson mediierend fungieren und den Rahmen stellen, damit ein respektvoller Austausch möglich wird.
Eine Beratung macht dann Sinn, wenn Personen das Gefühl haben, Unterstützung in ihrer Beziehungsarbeit zu benötigen. Wenn sich ein Leidensdruck einstellt, der Alltag nicht mehr so einfach gelingt oder man gemeinsam mit den die Beziehung belastenden Themen nicht mehr fertig wird, ist es ratsam, sich Hilfe zu holen.
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MEHR ZUR AUTORIN DIESES BEITRAGS:
Tjara-Marie Boine ist Redakteurin für die Ressorts Business, Leben und Kultur. Ihr Herz schlägt für Katzen, Kaffee und Kuchen. Sie ist ein echter Bücherwurm und die erste Ansprechpartnerin im Team, wenn es um Themen wie Feminismus und Gleichberechtigung geht.
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