Deshalb müssen wir über männliche Rollenbilder sprechen
Männliche Rollenbilder auf dem Prüfstand
© Unsplash/Alexander Nikitenko
zwischen superheldenmentalität und väterlicher einsamkeit
Wenn wir über die Gleichberechtigung der Geschlechter schreiben, lassen wir im Regelfall Frauen zu Wort kommen – eben jene, die vom Patriarchat am meisten betroffen sind. Doch wie ergeht es eigentlich Männern in diesem System? Und wie denken sie selbst über männliche Rollenbilder? Um diese Fragen zu beantworten, haben wir Marcel Kerber, Berater in der Tiroler Männerberatungsstelle „Mannsbilder“, zum Gespräch gebeten.
Mit welchen Anliegen und Ängsten kommen Männer zu Ihnen?
Marcel Kerber: Grundsätzlich kommen 90 Prozent der Männer freiwillig zu uns, zehn Prozent durch eine behördliche Auflage. Manche kommen auch, weil ihre Partnerin das möchte. Aber die meisten sind aus eigenem Antrieb hier, das ist eine gute Sache, weil Männer sich grundsätzlich schwerer tun, sich Probleme einzugestehen und Hilfe in Anspruch zu nehmen. Oft geht es um Gewalt, aber auch um Themen wie Alltagsüberforderung oder Probleme im Beruf. Viele Männer arbeiten viel zu viel.
Auch psychische Erkrankungen kommen immer wieder vor. Hier eruieren wir, ob es ein therapeutisches Setting braucht, und vermitteln bei Bedarf an die entsprechenden Stellen weiter. Wir arbeiten auch mit Burschen ab zwölf Jahren, da gibt es oft Probleme in der Schule oder mit der Familie. Aber auch Beziehungen, Trennungen, Vaterschaft oder die Kinderobsorge sind oft Thema.
Um frei nach Herbert Grönemeyer zu fragen: Wann ist ein Mann ein Mann?
Wenn ich an meinen eigenen Vater denke, war das ganz klar der Familienernährer, der Vollzeit gearbeitet hat, während die Frau daheim auf die Kinder geschaut hat. Ein Mann muss stark sein, soll möglichst keine Probleme haben – und wenn, dann soll er sie selbst lösen. Das sind die typisch patriarchalen Strukturen, die alle darauf ausgelegt sind, dass der Mann möglichst mächtig ist. Und die sind heute immer noch in unseren Köpfen verankert.
Inwiefern hat sich dieses Rollenbild in den vergangenen Jahren verändert?
Der Druck ist gestiegen. Überspitzt formuliert soll ein Mann jetzt nicht mehr nur Familienernährer sein, Vollzeit arbeiten und alles im Griff haben, sondern auch noch ein guter Vater sein und Zeit für die Kindererziehung aufbringen. Geld zu verdienen ist in wirtschaftlich unsicheren Zeiten notwendiger denn je, zumal die Rollenbilder leider noch so sind, dass Frauen meist nur Teilzeit arbeiten oder gar nicht. Da wird es für viele eng.
Natürlich gibt es auch Männer, die Teilzeit arbeiten und sich nebenbei um die Kinder kümmern, aber die sind noch sehr unterrepräsentiert. Acht von zehn Männern gehen nicht in Karenz, und wenn, dann meist nur ein oder zwei Monate. Und auch diese Zahlen sind in den letzten Jahren zurückgegangen, wir beobachten hier eine Rückkehr zu traditionellen Rollenbildern. Ich vermute, dass das mit den allgegenwärtigen Krisen – Corona, Kriege, Teuerung – zusammenhängt. In Krisenzeiten greift der Mensch gerne auf das zurück, was er schon kennt.
Wie stehen Sie zu der Annahme, Männer würden zu wenig über ihre Gefühle sprechen?
Wir werden so sozialisiert und erzogen, dass wir keine Schwäche zeigen und nicht über die eigenen Gefühle sprechen sollen. Mädchen und Buben werden ja auch unterschiedlich getröstet: Tut sich ein Mädchen weh, reagieren Menschen viel empathischer, mehr auf der Gefühlsebene, der Schmerz wird eher ernst genommen. Bei Buben wird er eher heruntergespielt. Dabei weiß man, dass männliche Säuglinge sogar viel schreckhafter sind als weibliche und eigentlich mehr Zuwendung bräuchten.
Für die Geburt und das Stillen braucht es die Mutter, aber alles andere kann der Vater genauso.
Marcel Kerber, Männerberater
Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen verdrängten Gefühlen und körperlicher Gewalt?
Es ist sicher so, dass Männer, die körperlich gewalttätig sind, einen schlechteren Zugang zu den eigenen Gefühlen haben, vor allem zu den unangenehmen. Wenn ich meine Emotionen immer wegdrücken muss, es gleichzeitig aber viele Probleme im Leben gibt, dann kann daraus ein Ohnmachtsgefühl entstehen, das schlimmstenfalls in Gewalt gipfelt. Also ja, die Sozialisierung spielt sicherlich mit hinein. Aber Gewalt ist immer eine bewusste Entscheidung.
Männer, die sich für ein progressiveres Rollenbild einsetzen, werden immer noch gerne belächelt. Aber sind nicht auch Männer Opfer des Patriarchats?
In der traditionellen Männlichkeit geht es um Macht, um Stärke, um Konkurrenz und um Wettbewerb. Aber das Patriarchat und dieser Wettbewerb sind anstrengend und haben ihren Preis. Nicht grundlos haben Männer fünf Jahre weniger Lebenserwartung. Ich würde mir wünschen, dass sich dieses Rollenbild mehr in Richtung solidarische, sorgende Männlichkeit wandelt. Inzwischen weiß man aus Studien, dass Männer, die neben der Erwerbsarbeit auch Sorgearbeit übernehmen, gesünder leben, weniger oft krank sind und ein niedrigeres Suizidrisiko haben.
Im Umkehrschluss: Wenn ich als Mann nur arbeite und keine Care-Arbeit mache, zahle ich selbst drauf, die Partnerin zahlt drauf, und die Kinder zahlen auch drauf. Denn die werden irgendwann sagen: „Ich hätte mir gewünscht, dass mein Papa mehr da gewesen wäre.“ Kinder entwickeln sich auch besser, wenn beide Eltern da sind, sozial und emotional. In Schweden wird das schon gelebt: Da macht niemand um drei Uhr nachmittags einen beruflichen Termin aus, weil diese Zeit für die Kinderbetreuung reserviert ist. Als Mann hat man dort im öffentlichen Dienst sogar einen Karrierenachteil, wenn man nicht in Karenz geht. Da wird man eher schräg angeschaut.
Stichwort Karriere: Braucht es bei uns mehr Anreiz für die Väterkarenz?
Absolut. Man weiß, dass in Betrieben, die Väterkarenz fördern, eine niedrigere Fluktuation herrscht, dass die Mitarbeiter bessere soziale Kompetenzen haben und Konflikte besser bewältigen können. Aber wenn bei uns ein Vater bei der Geburt seines Kindes dabei sein möchte, muss er damit rechnen, dass er in der Firma einen blöden Spruch zu hören bekommt – à la: „Bringst du etwa das Kind zur Welt?“
Und hier reden wir durchaus auch vom akademischen Umfeld, von Menschen mit einem entsprechenden Bildungshintergrund. Aber ja, im Endeffekt sitzen ja an den zentralen Stellschrauben auch wieder größtenteils Männer, die ihre eigene Macht nicht aufgeben wollen.
Was sagen Sie Männern, die sich davor scheuen, in Karenz zu gehen?
Ich war bei meinem ersten Kind auch sehr unsicher, und ich habe weniger Karenzzeit genommen als beim zweiten. Da war ich dann ein Jahr lang zuhause. Meine Frau hat mich dabei unterstützt und mir auch zugetraut, mich um dieses kleine Wesen zu kümmern. Viele trauen das ihren Männern nicht zu und glauben: Wenn’s ans Eingemachte geht, kann das nur die Mama. Und das stimmt einfach nicht. Ja, für die Geburt und das Stillen braucht es die Mutter, aber alles andere kann der Vater genauso – wenn er es will und es sich zutraut.
Natürlich hat man Ängste und Unsicherheiten, das ist normal, vor allem im Umgang mit Säuglingen. Aber die haben ja alle Eltern. Es ist wichtig, diese Gefühle offen zu besprechen, entweder mit der Partnerin oder mit Beratungseinrichtungen wie der unseren.
Welche Erfahrungen haben Sie selbst in der Karenz gemacht?
Es war eine entschleunigte Zeit, wenn auch eine anstrengende. Ich war von früh bis spät mit Kochen, Wickeln, Spazierengehen, Einkaufen, Haushalt beschäftigt. Von Burschen in unseren Workshops höre ich immer wieder: „Die Frau sitzt ja bei den Kindern fein zu Hause und geht Kaffee trinken.“ Die können sich gar nicht vorstellen, was das heißt, sich den ganzen Tag um ein kleines Lebewesen zu kümmern. Für einen Kaffee bleiben da gerade mal ein paar Minuten Zeit.
Aber die Beziehung zu meinen Kindern wäre sicher eine ganz andere, wenn ich am Anfang nicht so präsent gewesen wäre. Allerdings habe ich mich auch sehr einsam gefühlt. Auf Spielplätzen war ich fast immer der einzige Mann, und da habe ich ein paar kuriose, fast schon übergriffige Situationen erlebt. Wo ich dann zum Beispiel von einer wildfremden Frau gefragt wurde: „Wo ist denn die Mutter?“ Oder die komischen Blicke, die man bekommt, wenn man das Kind im Tragetuch trägt – „kriegt es eh genug Luft?“
Ein Bekannter von mir war mit seinen Zwillingen unterwegs; sie wollten partout nicht ins Auto steigen und haben ein bisschen gequengelt. Er hat sie dann hochgenommen und hineingesetzt. Eine Frau, die das Ganze beobachtet hat, hat daraufhin die Polizei gerufen – wegen vermuteter Kindesentführung. Ich bin überzeugt, bei einer Frau wäre das nicht passiert.
Laut einer aktuellen Umfrage ist jeder dritte Millenial der Meinung: Ein Mann ist kein echter Mann, wenn er sich um die Kinder kümmert. Deckt sich das mit Ihren Erfahrungen aus der Beratungsarbeit im Schulbetrieb?
Ja. Erst vor kurzem habe ich von einem Vierjährigen den Satz gehört: „Echte Männer weinen nicht.“ Und von Jugendlichen höre ich immer wieder, die Mama sollte mindestens zuhause bleiben, bis das Kind neun Jahre alt ist. Das sind so Aussagen, die ganz klar von traditionellen Rollenzuschreibungen kommen, und die schnappen sie von Erwachsenen aus ihrem Umfeld auf. Und zwar nicht zuletzt von Frauen, die ja immer noch die Haupterziehungsarbeit leisten. Es wäre wichtig, dass auch Mütter hier ihre eigene Sozialisierung hinterfragen.
Tut sich ein Mädchen weh, wird der Schmerz eher ernst genommen. Bei Buben spielt man ihn herunter.
Marcel Kerber
Es gibt ja den Begriff des „Maternal Gatekeeping“, was übersetzt so viel bedeutet wie mütterliches Türstehen.
Ja, überspitzt formuliert ist der Gedanke hier: „Die Familie ist mein Reich, da kenne ich mich aus, und da redest du mir nicht drein.“ Und was vorher nicht da war, wird im Fall einer Scheidung oder Trennung noch schwieriger. Dann müssen die Väter Länge mal Breite Unterhalt zahlen – das ist ja gerechtfertigt, aber sie haben dementsprechend nur noch mehr Druck, Geld zu verdienen. Ihre Kinder sehen sie allerdings nur mehr alle zwei Wochen am Wochenende, wenn man als Paar nicht vorher eine 50:50-Betreuung gelebt hat.
Was wäre aus Ihrer Sicht nötig, um ein gleichberechtigtes Miteinander der Geschlechter zu ermöglichen?
Zunächst einmal finde ich es wichtig, die Ungleichheiten klar zu benennen. Dass jede:r Einzelne für sich hinterfragt, ob er: sie mit der aktuellen Situation zufrieden ist, ob es der eigenen Familie gutgeht, ob das Lebensmodell auch den eigenen Wünschen entspricht und man es nicht nur macht, weil man so sozialisiert wurde.
Ich würde mir wünschen, dass Betriebe die wirtschaftlichen Vorteile der Gleichberechtigung erkennen, dass Männern die Karenz erleichtert wird und dass sich die gesetzlichen Rahmenbedingungen ändern. Dass es endlich einen gescheiten Diskurs gibt und wir gemeinsam versuchen, an Lösungen zu arbeiten.
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MEHR ÜBER DIE AUTORIN DIESES BEITRAGS:
Andrea Lichtfuss ist Stv. Chefredakteurin der TIROLERIN und für die Ressorts Beauty, Style und Gesundheit zuständig. Sie mag Parfums, Dackel und Fantasyromane. In ihrer Freizeit findet man sie vor der X-Box, beim Pub-Quiz oder im Drogeriemarkt.
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