Quallen, im Meer, dunkelblau

Feine Antennen: Über Hochsensibilität

Im Gespräch über Hochsensibilität mit Psychologin Caroline Makovec

7 Min.

© Unsplash/Joel Filipe

Wer hochsensibel ist, nimmt mehr und intensiver wahr als andere. Das kann bereichernd sein, aber auch sehr anstrengend, weil die Betroffenen mehr verarbeiten müssen. Caroline Makovec ist Klinische Psychologin und seit mehreren Jahren im Bereich Hochsensibilität tätig. Auch sie selbst zählt sich zu den besonders feinfühligen Menschen. Frei nach dem Motto „live what you preach“ ist sie davon überzeugt, Menschen gerade bei jenen Herausforderungen am zielführendsten unterstützen zu können, die ihr auch selbst vertraut sind. Im Gespräch berichtet sie von typischen Merkmalen sowie Stärken von Betroffenen und gibt hilfreiche Tipps, wie man hochsensible Menschen im Alltag unterstützen kann.

Psychologin Caroline Makovec
Caroline Makovec ist seit mehreren Jahren als Diplom-Psychologin mit klinisch-psychologischer Fachausbildung sowie als Coachin im Bereich Hochsensibilität tätig. © privat

Was ist Hochsensibilität genau?

Caroline Makovec: Hochsensibilität setzt sich im wesentlichen aus drei Faktoren zusammen: Der sensorischen, der emotionalen und der kognitiven Sensibilität. Hochsensibilität bewegt sich auf einem Kontinuum. Das bedeutet, dass der Ausprägungsgrad und auch die Schwerpunkte dieses Wesenzugs unterschiedlich sind. Viele hochsensible Menschen sind in allen drei Bereichen überdurchschnittlich feinfühlig, haben aber einen Schwerpunkt in einem der drei Bereiche – also Fühlen, Spüren und Denken.

Wie erkenne ich, dass ich hochsensibel und nicht „nur“ introvertiert oder überempfindlich bin?

Hochsensibilität und Überempfindlichkeit sind unterschiedliche Dinge, die gleichzeitig auftreten können aber nicht müssen. Hochsensibilität ist ein angeborener Persönlichkeitszug, während Überempfindlichkeit aus einer chronischen Überforderung entstehen kann. Wenn meine Empfindsamkeit bereits mein ganzes Leben lang besteht, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass ich tatsächlich hochsensibel bin. Was noch lange nicht heißt, dass ich auch überempfindlich sein muss. Auch Introversion alleine ist kein Merkmal für Hochsensibilität. Weitere der bereits genannten Kriterien müssen erfüllt sein, um eine verlässlichere Aussage treffen zu können.

Hochsensibilität, Mann auf Couch, Gelb, schüchtern
© Pexels/RF Studio

Lässt sich messen, was sich im Gehirn betroffener Menschen abspielt?

Das lässt sich nicht eindeutig beantworten. Während eindeutige Nachweise in bildgebenden Verfahren nach wie vor nicht vorliegen, gibt es bereits diverse pseudowissenschaftliche Ansätze zu Entstehung, Diagnose und Umgang mit den Herausforderungen der Hochsensibilität. Dennoch gibt es vereinzelte neurowissenschaftliche Studien, in denen versucht wurde, die höhere sensorische Verarbeitungssensitivität hochsensibler Menschen zu messen. Insgesamt zeigte sich, dass die Aktivierung bestimmter Hirnareale bei hochsensiblen Menschen stärker ist. Diese Studien werden allerdings sehr kontrovers diskutiert. Während es unter Forscher:innen außer Zweifel steht, dass Menschen unterschiedlich empfindsam auf Belastungen im Innen und im Außen reagieren, stellt sich die Frage, ob diese Unterschiede ausreichend durch eine mögliche Hochsensibilität der Betroffenen erklärt werden können. Erhöht Feinfühligkeit ist also nach wie vor schwer objektivierbar und bleibt oft der subjektiven Einschätzung der „Betroffenen“ überlassen.

Die wissenschaftliche Grundlage ist also recht umstritten?

Hochsensibilität wird in der Wissenschaft nach wie vor oft mit Neurotizismus, also mangelnder emotionaler Stabilität gleichgesetzt. Emotional labile Menschen weisen Verhaltensweisen auf, die ebenfalls auf hochsensible Menschen zutreffen können, wie eine Neigung zur Nervosität und allgemeiner Ängstlichkeit, zu Schüchternheit und depressiven Verstimmungen, einer erhöhten Sensibilität im Umgang mit Stress und körperlichen Schmerzen. Während emotionale Labilität jedoch aufgrund von äußeren Belastungen entsteht, ist Hochsensibilität eine angeborene Eigenschaft. Und das ist für mich der entscheidende Unterschied in der Erklärung von Hochsensibilität. Emotional labile, „neurotische Menschen“, haben im Lauf ihres Lebens durch traumatische Erfahrungen ein übersensibles Nervensystem entwickelt, das auf Trigger überschießend reagiert. Durch das Erlernen von resilienterem Verhalten können „neurotische“ Menschen zu ihrer normalen Sensibilität zurückfinden. Hochsensible Menschen können im Lauf ihres Lebens natürlich auch eine emotionale Instabilität entwickeln, die in einer psychologischen Therapie behandelt werden kann. Die Hauptfaktoren der Hochsensibilität werden die Personen als Charakterzüge jedoch beibehalten.

Hochsensibilität, introvertierte Menschen
© Pexels/Inga Seliverstova

Ist Hochsensibilität vielleicht auch zu einer Modediagnose geworden?

Ja, der Begriff ist auch zu einer Modediagnose geworden. Das bringt Vor- und Nachteile mit sich. Da Hochsensibilität zu einem öffentlich diskutierten Phänomen geworden ist, haben viele sehr feinfühlige Menschen die Möglichkeit bekommen, ihr gefühltes „Anderssein“ besser verstehen zu können. Andererseits wird der versteckte Neurotizismus von normal sensiblen Menschen von diesen auch gern mal als Hochsensibilität gelabelt, weil der Begriff hochsensibel gesellschaftlich generell positiver bewertet ist. Und letztlich gibt es auch Fälle psychisch schwer erkrankter Menschen, die ihre Erkrankung mit einer vermeintlichen Hochsensibilität maskieren möchten. In jedem Fall sollte genau hingesehen werden, bevor der Begriff der Hochsensibilität noch verallgemeinender eingesetzt wird.

Auf welche Schwierigkeiten stoßen hochsensible Menschen im Alltag und wie kann man Betroffene unterstützen?

Hochsensible Menschen leiden häufiger unter Reizüberfl utung und haben Schwierigkeiten, sich von Erlebnissen zu distanzieren. In Folge können Sie dazu neigen, Situationen zu vermeiden, die sie überfordern. So sind Angststörungen, Belastungsstörungen und Depressionen bei hochsensiblen Menschen häufiger zu finden als bei der „durchschnittlich sensiblen“ Bevölkerung. Als Partner:in, Freund:in oder Familienmitglied kann man hochsensible Menschen am besten unterstützen, indem man Hochsensibilität als normalen Wesenszug betrachtet. Man sollte sie ermutigen, ihre Bedürfnisse und Gefühle auszudrücken und ihnen Raum für Rückzug und Me-Time geben. Aktivitäten wie Naturerkundungen oder Singen können helfen, die Gedankenkreise zu durchbrechen. Wenn jedoch über einen längeren Zeitraum hinweg ein Leidensdruck zu spüren ist, kann eine therapeutische Begleitung sinnvoll sein.

sensibel, Blume, schwarz-weiß
© Pexels/Ellie Burgin

Inwiefern kann Hochsensibilität auch ein Vorteil sein?

Hochsensible Menschen vereinen viele resilienzfördernde Charaktermerkmale in sich. Wenn sie lernen, konstruktiv mit ihrer Hochsensibilität umzugehen, hilft ihnen das sehr dabei, krisensicher aufgestellt zu sein. Zu diesen Schutzfaktoren zählen und zählt die Selbstwahrnehmung, also zu wissen, was ich fühle, die Selbststeuerung, der konstruktive Umgang mit Emotionen, die Selbstwirksamkeit, soziale Kompetenz, eine
optimistische Grundhaltung, seine Grenzen zu kennen, Verantwortung zu übernehmen, Selbstakzeptanz und Genussfähigkeit.

Wie kann man sich als Betroffene:r vor Reizüberflutungen schützen?

Dazu ist es wichtig, ein gutes Körperbewusstsein zu entwickeln. Das heißt, zu spüren, wann mir etwas zu viel ist. Körperliche Zeichen wahr- und ernst zu nehmen, ist ein wichtiger Schritt, eine Reizüberflutung unserer Sinneskanäle rechtzeitig zu erkennen und gegenzusteuern. Übungen, die das Körperbewusstsein fördern, sind hier sehr zu empfehlen, wie zum Beispiel Atemübungen, Yoga, Achtsamkeitsübungen, Autogenes Training oder Progressive Muskelentspannung.

Schmetterlinge, Fenster, orange, ästhetisch
© Pexels/Rafael Cerqueira

Wenn ich glaube, hochsensibel zu sein, wie und wo kann ich mich zuverlässig diagnostizieren lassen?

Da Hochsensibilität keine Krankheit, sondern ein Wesenszug ist, gibt es kein psychologisch valides, wissenschaftliches Testverfahren. Online gibt es jedoch diverse Fragebögen, die wissenschaftlich zwar nicht geprüft sind, aber einen ganz guten ersten Eindruck durch eine grobe Selbsteinschätzung liefern, wie zum Beispiel der Fragebogen auf www.hochsensibel.net.

Drei Faktoren der Hochsensibilität

SENSORISCHE SENSIBILITÄT:
Durch ihre besonders feinen Sinneswahrnehmungen nehmen hochsensible Menschen sensorische Reize intensiver wahr als „normal“-sensible Menschen. Geräusche, Gerüche, Geschmack, Licht und Berührungen wirken besonders stark auf sie.

EMOTIONALE SENSIBILITÄT:
Feinheiten in zwischenmenschlichen Bereichen werden von hochsensiblen Menschen intensiver aufgenommen. Sie sind mitfühlend, hilfsbereit, empathisch und oft besonders gute Zuhörer:innen mit starker Intuition.

KOGNITIVE SENSIBILITÄT:
Hochsensible Menschen wollen das Verhalten anderer besonders genau verstehen. Sie analysieren Menschen und Situationen oft detailliert, haben ein starkes Gefühl für „Wahr oder Falsch“ und denken in komplexen Zusammenhängen.

DAS KÖNNTE DICH AUCH INTERESSIEREN

Mehr zur autorin dieses beitrags:

Kultur-Redakteurin Tjara-Marie Boine bei der TIROLERIN
© TIROLERIN

Tjara-Marie Boine ist Redakteurin für die Ressorts Business, Leben und Kultur. Ihr Herz schlägt für Katzen, Kaffee und Kuchen. Sie ist ein echter Bücherwurm und die erste Ansprechpartnerin, wenn es um Themen wie Feminismus oder Gleichberechtigung geht.

Abo

Die TIROLERIN – immer mit dabei